Gamen mit Hirn
21. April 2020Er steuert ein Computerspiel einzig mit seinen Gedanken. Der querschnittgelähmte Samuel Kunz trainiert derzeit mit Forschenden aus Zürich und Singapur für den diesjährigen Cybathlon.
Samuel Kunz steckt mitten in der Trainingsphase. Im November wird er an der Cybathlon 2020 Global Edition gegen neun konkurrierende Athleten antreten. Seine Disziplin: ein virtuelles Autorennen, bei dem er das Fahrzeug allein über seine Gedanken steuern wird. Dafür besucht ihn Paulina Kratka, Bachelorstudentin am «Neural Control of Movement Lab», regelmässig in Frauenfeld, zieht ihm eine Kappe mit 64 Elektroden über und befüllt jede einzelne mit einem Elektrolytgel, damit der Kontakt zwischen Elektrode und Kopfhaut gesichert ist. Dann koppelt sie die Kabel der Kappe mit einem Signalverstärker, der mit einem Laptop verbunden ist, auf dem das Computerspiel läuft.
Samuel Kunz ist der Pilot des Brain Computer Interface (BCI-)Teams der ETH Zürich. Er ist seit einem Badeunfall an der Limmat im Sommer 2014 vom Hals an querschnittgelähmt. Trotzdem hat er sein Studium als Maschineningenieur an der ZHAW abgeschlossen und arbeitet nun als Konstrukteur. «Ich bin sehr technikaffin», sagt er. «Als mir mein Therapeut vom Cybathlon erzählte, wusste ich sofort, dass ich da mitmachen will.»
EEG statt Steuerrad
Für den diesjährigen Cybathlon spannt Nicole Wenderoth, ETH-Professorin am «Neural Control of Movement Lab», eng mit Professor Cuntai Guan von der Nanyang Technological University (NTU) in Singapur zusammen. Dessen Gruppe hat sich auf Elektroenzephalografie (EEG) und die Verarbeitung von neurologischen Signalen spezialisiert. EEG wird in den Neurowissenschaften zur Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns genutzt. Mit den richtigen Algorithmen können damit auch Computergames bedient werden.
«Mit dem EEG messen wir sämtliche Signale des zerebralen Kortex», erklärt Rea Lehner, Senior Programme Manager und Senior Researcher Future Health Technologies in Singapur und Managerin des BCI-Teams. «Deshalb haben wir zu Beginn ein komplettes Durcheinander von verschiedenen Hirnsignalen.» Die grösste Herausforderung sei, die für die Steuerung des Computergames verwendeten Signale herauszufiltern und mit Maschinellem Lernen zu identifizieren. Im Fall von Lehners BCI-Team sind das die Signale des motorischen Kortex im hinteren Teil des Frontallappens des Gehirns. Aus der Forschungsliteratur ist nämlich bekannt, dass sich diese aufgrund ihrer eindeutigen Aktivität am besten für die Etablierung einer Gehirn-Computer-Schnittstelle eignen.
Das Cybathlon-Team, das auch von der Rehaklinik Zihlschlacht und der Firma Brain Products unterstützt wird, war fast zwei Jahre damit beschäftigt, den Algorithmus für die Signalverarbeitung zu optimieren. Dieser soll die elektrischen Signale in Samuel Kunz’ motorischem Kortex exakt und gezielt in Bewegungen auf dem Bildschirm umwandeln. Dabei geht es um vier Kommandos: Wenn Kunz das Auto nach links steuern will, dann denkt er daran, seine linke Hand zu bewegen. Bei einer Kurve nach rechts denkt er an seine rechte Hand. Zum Geradeausfahren muss er sich bestmöglich entspannen und um bei plötzlicher Dunkelheit im Spiel die Fahrzeuglichter einzuschalten, denkt er daran, beide Hände gleichzeitig zu bewegen. Abhängig von seinen Gedanken wird ein unterschiedliches Muster in der Kortexregion aktiviert. Dieses wird über EEG registriert und durch Algorithmen in ein Steuerungssignal umgewandelt. «Die Trainings sind anstrengend», sagt Kunz. «Wenn ich meinen Körper in Gedanken bewege, ist das ein wenig, als wäre ich in einer zähen Masse wie Honig gefangen.» Das sei jedoch bereits viel besser als zu Beginn, als sich sein Körper angefühlt habe wie einbetoniert. Erst durch Rehabilitation und Training habe er schrittweise wieder ein mentales Gefühl für den eigenen Körper erlangt.
Während die Kollegen in Singapur am Algorithmus tüfteln, wird in der Schweiz fleissig trainiert. Im Hintergrund läuft dabei kontinuierlich ein Programm, das die Performance des Algorithmus analysiert. «Die Anzahl Trainingseinheiten mit einem bestimmten Algorithmus ist entscheidend, weil sich dieser dem Piloten anpasst und der Pilot sich wiederum an den Algorithmus gewöhnt», erklärt Lehner. Den idealen Zeitpunkt zu finden, an dem die Weiterentwicklung des Algorithmus gestoppt wird, sei schwierig.
Interesse von Tech-Firmen
Im Gegensatz zu anderen am Cybathlon präsentierten Technologien ist das BCI noch am weitesten von ersten praktischen Anwendungen entfernt. Eine solche wäre zum Beispiel die gedankliche Steuerung eines Rollstuhls. Doch die Vorbereitung und Nutzung einer Elektrodenkappe ist umständlich und die Signalumwandlung komplex. Einfacher geht dies bislang über Signale, die von noch aktiven Muskeln ausgehen, wie zum Beispiel den Augenlidern. Solche Signale sind deutlich stärker als die «Gedankensignale».
Von Seiten Industrie ist das Interesse an BCI aber schon heute riesig. Google und Facebook investieren Millionen in diesen Bereich. Nach der Sprachsteuerung soll die gedankliche Steuerung von Smartphones und Tablets das nächste grosse Ding werden. Auch Tesla-Gründer Elon Musk setzt mit dem Unternehmen Neuralink auf das BCI. Dafür entwickeln über 90 Mitarbeitende unter anderem hauchdünne, implantierbare Elektroden. Eine sichere Anwendung am Menschen ist aber noch ausstehend. Lehner steht solchen invasiven BCI denn auch kritisch gegenüber: «Mit Elektroden, die direkt ins Gehirn eingesetzt werden, erhält man natürlich viel deutlichere Signale als über eine Kappe», sagt sie. «Doch solche Eingriffe sind in Bezug auf den Patientennutzen bisher nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt.» Komplikationen können schwerwiegend sein und noch fehlen Langzeitstudien mit grossen Kohorten. Lehner hofft deshalb, dass die Entwicklung von nichtinvasiven BCI-Technologien schnell vorangeht, damit invasive nur in Ausnahmefällen zum Zug kommen.
Mit Nickerchen zum Sieg
Am 13. November ist es soweit: Samuel Kunz wird versuchen, sich gegen neun internationale BCI-Teams durchzusetzen. Über eine Strecke von 500 Metern wird er alle vier Kommandos viermal ausführen müssen, wobei die Reihenfolge unbekannt ist. Die grösste Herausforderung für den Piloten sei, die Gesichtsmuskulatur nicht zu bewegen, erzählt Kunz, denn das führe zu schweren Störsignalen. Sein bislang bestes Resultat erzielte er nach einem erholsamen Mittagsschlaf. «Ob mir ein solches Nickerchen jedoch kurz vor dem Rennen gelingen wird, weiss ich noch nicht.»
Die Originalfassung dieses Textes ist in der diesjährigen März-Ausgabe des ETH-Magazins Globe erschienen.
ETH-Podcast
Es gibt auch einen ETH-Podcast über Samuel Kunz, wie er sich auf den CYBATHLON 2020 vorbereitet. Hören Sie den Podcast hier!