Auf der Zielgeraden

15. Oktober 2020
Beinprothesen-Pilot Stefan Poth wird Prothese startklar gemacht.

Am 13. und 14. November 2020 ist es soweit: Rund 60 Teams aus der ganzen Welt treten beim CYBATHLON 2020 gegeneinander an. Für Pilot Stefan Poth ist es der durch die Pandemie um Monate verschobene Höhepunkt. Endlich kann er zeigen, was mit seiner Beinprothese alles möglich ist.

«Treppen sind die grösste Herausforderung», sagt Stefan Poth. Der 55-​jährige Schweizer hat 2013 bei einem Unfall, bei dem ein Auto in sein Motorrad hineinfuhr, sein linkes Knie und den Unterschenkel verloren. Sein Leben davon einschränken lassen, wollte er jedoch nie. Schon in der Reha stand für ihn fest: «Ich will mich nicht verstecken, sondern offen damit umgehen». Zu viele Amputierte würden sich schämen. Noch zu Jahresanfang war er Offroad mit dem Auto in Westafrika unterwegs, und in seiner Freizeit spielt der Unternehmer heute Rollstuhltennis. Am 13. November 2020 tritt er erstmals als Pilot des Teams NeuroLegs vom Institut für Robotik und Intelligente Systeme der ETH Zürich beim CYBATHLON an.

Das Schwierige an Treppen ist, dass zum Hinauf-​ und Heruntergehen ein Bein nach dem anderen im richtigen Winkel gebogen, dann sauber auf der nächsten Stufe aufgesetzt, das Gewicht verlagert und der Fuss belastet werden muss. Zudem muss bei den allermeisten Prothesen die gesamte Kraft aus dem Oberschenkel kommen. Ein komplexer Vorgang, der für Trägerinnen und Träger von Beinprothesen dadurch erschwert wird, dass sie nicht spüren können, ob sie den Fuss weit genug auf der Stufe aufgestellt haben. Daher schauen sie kontinuierlich auf ihre Füsse.

Prothese mit sensorischem Feedback

«Wir wollen Amputierten wie Stefan das Gefühl zurückgeben», erläutert Giacomo Valle vom Team NeuroLegs. Der Wissenschaftler arbeitet in der Forschungsgruppe des Neuroengineering Labs von ETH-​Professor Stanisa Raspopovic an einer Technologie, die dem Prothesenträger in Echtzeit sensorisches Feedback gibt. Eine spezielle Fusssohle misst die Belastung und sendet diese via Bluetooth an ein Kontrollsystem, das wiederum über Elektroden Vibrationen am Oberschenkel erzeugt. Bei Gewicht auf den Zehen vibriert es vorne am Oberschenkel, beim Hinterfuss hinten. «Je stärker das Gewicht auf dem Fuss, desto stärker die Vibration», erklärt Valle. Diese Technologie soll Stefan Poth nicht nur im Alltag mehr Vertrauen in die Prothese geben, sondern ihm auch eine gute Chance auf einen Platz auf dem Siegertreppchen beim CYBATHLON eröffnen.

So gut die Technik auch ist, der CYBATHLON-​Parcours bringt die Piloten bis an ihre Grenzen. «Bei der schwierigsten Aufgabe muss ich über einen Balken balancieren und gleichzeitig in der einen Hand einen mit Sand befüllten Eimer tragen», erzählt Poth. Die Herausforderung dabei sei es, beim Balancieren das Gewicht von einem auf den anderen Fuss zu verlagern bei gleichzeitig einseitiger Belastung durch den Eimer. «Das erfordert hohe Konzentration», sagt er. Zudem müsse er das Hindernis noch möglichst schnell bewältigen.

Angesprochen auf die Verschiebung des Events vom Mai auf November reagiert Stefan Poth gelassen. «Es ist wie es ist». Nach seinem Unfall habe er erst Tage mit dem Tode gerungen und dann sein ganzes Leben umstellen müssen. Da lasse er sich durch die Pandemie nicht aus der Ruhe bringen. «Ich finde es nur schade, dass das Publikum nicht live dabei sein kann», meint Poth. Er hatte sich sehr darauf gefreut, vor 5000 Zuschauerinnen und Zuschauern anzutreten. Im Sommer 2019 hatte ihn die Atmosphäre bei seinem Auftritt bei der «CYBATHLON Series» in Deutschland und bei Weltklasse Zürich im Hauptbahnhof Zürich gut gefallen.

Beinprothesen-Pilot Stefan Poth steigt eine Treppe herunter.

Möglichst fehlerfrei bis ins Ziel

Nur wird er stattdessen so wie die Pilotinnen und Piloten der weiteren neun Schweizer Teams auf dem Campus Hönggerberg im Arch_Tec_Lab antreten, wo der Wettkampf gefilmt wird. Und auch die anderen rund 50 Teams weltweit werden ihren Parcours zeitlich versetzt und gebündelt nach Länderhubs bewältigen, filmen, und in Echtzeit an die ETH Zürich schicken. Dort werden dann die Aufnahmen aus aller Welt für die grosse Live-​Übertragung zusammengestellt.

Wie gut seine Chancen auf einen Sieg stehen, kann Stefan Poth nicht sagen. Vor allem möchte er die Aufgaben fehlerfrei bewältigen. «Auch wenn ich mich für das gesamte NeuroLegs-​Team über einen ersten Platz freuen würde, besteht für mich persönlich der Sieg schon darin, beim CYBATHLON dabei zu sein», sagt Poth. «So kann ich andere Menschen auf die Probleme bei Behinderungen aufmerksam machen und helfen, die Forschung voranzubringen».

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