Mehr Ungewissheit und Variabilität im neuen CYBATHLON-Wettkampf

1. April 2022

Anfang April wird das neue Regelwerk für die CYBATHLON-Periode bis 2024 publiziert. Wieso organisiert CYBATHLON eigentlich einen Wettkampf für Menschen mit Behinderungen und wie wird dieser parallel zu den sich ändernden Bedürfnissen der Nutzenden weiterentwickelt? Lukas Jäger, Wettkampfleiter von CYBATHLON, gibt Auskunft.

 

CYBATHLON: CYBATHLON versteht sich als Plattform, die Gesellschaft, Forschung und Entwicklung, und Menschen mit Behinderungen vernetzt. So sollen alltagstaugliche Assistenztechnologien entwickelt werden, die die Inklusion von Menschen mit Behinderung im Alltag unterstützen. Wieso ist der Hauptbestandteil von CYBATHLON ein Wettkampf?

Lukas Jäger: Die Idee des Wettkampfs stand ganz zu Beginn des CYBATHLON, als Robert Riener die Plattform vor bald zehn Jahren ins Leben gerufen hatte. Der Wettkampf führt zu einer Konkurrenzsituation, welche die Teilnehmenden dazu anspornt, immer bessere Leistungen zu zeigen – einerseits die Entwicklerinnen und Entwickler, immer alltagstauglichere und nützlichere Geräte zu entwickeln, andererseits die Pilotinnen und Piloten, immer mehr aus ihren Geräten herauszuholen.

Forschung hat immer einen kompetitiven Charakter, bei CYBATHLON gehen wir aber noch einen Schritt weiter und zeigen die Forschung in Form eines Wettkampfes der Öffentlichkeit. So soll die Gesellschaft für die Herausforderungen, mit denen Menschen mit Behinderungen im Alltag konfrontiert sind, sensibilisiert werden. Ausserdem führt der Wettkampf zu Spektakel und Spannung, was dem Thema Inklusion einen neuen Zugang ermöglicht.

 

Wie funktioniert dieses Konzept genau?

Bei CYBATHLON stellen sich Teams von Universitäten, Firmen und NGOs mit ihren neuesten Assistenztechnologien verschiedenen Alltagsaufgaben. Die Geräte werden dabei von Entwicklerteams gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen realisiert. Die Menschen mit Behinderungen zeigen dann vor Publikum, wie man zum Beispiel mit einer robotischen Armprothese Schuhe bindet, mit einem Rollstuhl eine Treppe oder mit einem Exoskelett unebenes Gelände überwindet.

 

2016 hat der erste internationale CYBATHLON-Wettkampf stattgefunden, mit über 60 Teams aus aller Welt in sechs verschiedenen Disziplinen. Inwiefern wurde der Wettkampf seither weiterentwickelt und den Bedürfnissen der Menschen mit Behinderungen angepasst?

Die Bedürfnisse und Geräte haben sich in den letzten Jahren weiterentwickelt und so muss sich auch unser Wettkampf anpassen. Für die Teams braucht es neue Herausforderungen: Während beispielsweise die Wettkampfaufgaben für den CYBATHLON 2016 und 2020 sehr genau spezifiziert waren, werden die Aufgaben für den CYBATHLON 2024 in den meisten Disziplinen unvorhersehbarer und variabler sein.

Die Geräte müssen es den Pilotinnen und Piloten erlauben, schnell und flexibel auf verschiedene Aufgabenstellungen reagieren zu können. Beispielsweise muss ein Exoskelett dynamisch auf verschieden hohe Treppenstufen reagieren können, statt einfach eine vorgegebene, immer gleiche Treppe abzulaufen.

 

Weshalb diese Art der Weiterentwicklung?

Im Alltag sind die Umstände einer Aufgabe oder Barriere oft nicht bekannt oder über die Zeit und an verschiedenen Orten nicht konstant. Der CYBATHLON-Wettkampf soll also den realen Alltag besser abbilden. In den vergangenen Jahren waren die Geräte und ihre Funktionen teilweise noch ganz am Anfang. Inzwischen ist die Technologie in vielen Bereichen so weit, dass es durchaus möglich ist, dynamisch auf die Umwelt zu reagieren.

 

Die sechs ursprünglichen Disziplinen bleiben alle bestehen. Welches sind die Kriterien, dass sich eine CYBATHLON-Disziplin und ihre Aufgaben bewähren?

Damit ein Forschungsfeld eine CYBATHLON-Disziplin wird und bleibt, muss es vor allem eine Relevanz im Alltag haben. CYBATHLON verfolgt das Ziel, die Inklusion und Autonomie von Menschen mit Behinderungen zu fördern. Dabei konzentrieren wir uns auf motorische und sensorische Behinderungen, bei welchen das Potenzial besteht, Barrieren mit Hilfe von Assistenztechnologien wie Arm- und Beinprothesen, Rollstühlen oder intelligenten Blindenstöcken zu minimieren. Darüber hinaus können beispielsweise Exoskelette massgeblich zur Rehabilitation und physischen sowie psychischen Gesundheit von querschnittgelähmten Menschen beitragen. Nicht zuletzt muss eine Disziplin aber natürlich auch sicher und vergleichbar sein, damit ein sicherer und fairer Wettkampf ausgetragen werden kann.

 

Wie werden Fairness und Vergleichbarkeit in den CYBATHLON-Disziplinen denn gewährleistet?

Mit Hilfe des Regelwerks, das für jede Periode publiziert wird: Um an CYBATHLON-Wettkämpfen teilnehmen zu können, müssen sowohl die Pilotinnen und Piloten als auch die Geräte bestimmte Einschlusskriterien erfüllen, die pro Disziplin im Regelwerk verankert sind. Dies bedeutet zum Beispiel, dass Pilotinnen und Piloten im Exoskelett-Rennen vollständig von der Hüfte abwärts gelähmt sein müssen, oder dass die Fahrräder im Fahrradrennen mit elektrischer Muskelstimulation keinen Motor aber auf jeden Fall Bremsen haben müssen.

 

Apropos, das Fahrradrennen mit elektrischer Muskelstimulation scheint – ausser dem Faktor Freizeitbeschäftigung – keinen direkten Alltagsbezug zu haben. Weshalb hat sich das CYBATHLON-Organisationskomitee entschieden, die Disziplin weiterhin im Wettkampf zu behalten?

Allgemein ist die funktionelle Elektrostimulation (FES) eine Technologie, bei der gelähmte Muskeln durch elektrische Impulse, also entweder durch das Anbringen von Elektroden auf der Haut oder das Implantieren von Elektroden, wieder bewegt werden können. So kann eine querschnittgelähmte Person beispielsweise Fahrradfahren. Diese spezifische Tätigkeit ist – neben positiven Effekten auf die physische Gesundheit – aber hauptsächlich ein Beispiel für die elektrische Muskelstimulation, die Disziplin also ein Platzhalter für das ganze Forschungsfeld. Es geht nicht in erster Linie um das Fahrradfahren, sondern um den Transfer der Forschungsergebnisse in andere Bereiche; darum zu zeigen, was mit elektrischer Muskelstimulation erreicht werden kann.

 

Noch weiter entfernt vom Alltag bzw. der Alltagsrelevanz scheint das Rennen mit Gedankensteuerung (BCI). Die Pilotinnen und Piloten spielen in dieser Disziplin ein Computerspiel…

Dass BCI (englische Abkürzung für Brain-Computer Interface) Teil des CYBATHLON-Wettkampfs ist, hat ähnliche Gründe wie beim Fahrradrennen mit elektrischer Muskelstimulation: Es geht nicht um das Computerspiel, sondern darum, durch das Spiel zu zeigen, wie die Technologie der Gedankensteuerung funktioniert und die Entwicklung in diesem Feld weiter voranzutreiben. Wenn die Technologie so weit ist – im Moment steckt sie noch in Kinderschuhen – kann sie in diverse Bereiche des Alltags transferiert werden. So sollen Personen mit Querschnittlähmung in Zukunft beispielsweise Rollstühle oder Assistenzroboter autonom mit Gedanken steuern können.

 

Welches sind die wichtigsten Änderungen in den bestehenden Wettkampfaufgaben – abgesehen von der grösseren Ungewissheit und Variabilität?

Im BCI-Rennen sind neu implantierte Systeme zugelassen, die das Potenzial haben, die Hirnsignale noch genauer zu messen und an den Computer weiterzugeben. Ausserdem müssen neu nicht mehr nur An-Aus-Signale gesendet werden können, sondern auch kontinuierliche. Das bedeutet einfach gesagt: Ein Licht muss nicht mehr nur entweder an- oder ausgeschaltet werden, sondern muss auch gedimmt werden können. Die Signalstärke regulieren zu können, ist für viele Anwendungen im Alltag von grossem Nutzen.

Beim Exoskelett-Rennen wird neu das Gleichgewicht beim Gehen auf die Probe gestellt, indem die Pilotinnen und Piloten eine Strecke ohne Krücken zurücklegen müssen. Und beim Fahrradrennen mit elektrischer Muskelstimulation wird die Renndistanz im Vergleich zu früheren Veranstaltungen verlängert.

 

Auf der Road to 2024 kommen zu den ursprünglich sechs Disziplinen zwei weitere dazu: Ein Rennen mit intelligenten Sehassistenztechnologien für blinde Menschen und ein Rennen mit Assistenzrobotern für Menschen mit starker Beeinträchtigung der Arme und Beine. Weshalb diese beiden neuen Disziplinen?

Wir haben neben diesen beiden Disziplinen noch weitere mögliche neue Disziplinen geprüft, beispielsweise sogenannte Soft-Exoskelette. Da war es jedoch sehr schwierig, die Vergleichbarkeit und somit die Fairness zu gewährleisten.

Mit weltweit über zwei Milliarden Menschen mit einer Sehbehinderung ist dies eine der weitverbreitetsten Behinderungen (Quelle: WHO). Zwar gibt es auf dem Markt eine breite Palette von Sehhilfen, doch sind ihre Funktionen in der Regel auf bestimmte Bereiche beschränkt oder unpraktisch in der Anwendung. Intelligente Sehassistenten, die einen intuitiven, umfassenden und zuverlässigen Ersatz für das Sehen bieten, gibt es noch wenige. Wir möchten die Forschung in diesem Bereich vorantreiben, da diese Technologien das Potential haben, die Lebensqualität und Autonomie von blinden Menschen zu verbessern.

Die zweite neue Disziplin, Assistenzroboter, sind eine relativ neue Kategorie von Hilfsmitteln. Sie können Nutzinnen und Nutzer mit eingeschränkter motorischer Kontrolle im täglichen Leben begleiten und so einige der Aufgaben übernehmen, die sonst von Pflegepersonen erledigt werden. Um vollständig akzeptiert zu werden, müssen die Geräte jedoch nahtlos und zuverlässig in den Alltag integriert werden und einen sinnvollen Beitrag leisten können. Diese Aspekte möchten wir mit dem Wettkampf vorantreiben.

 

Um die Bedürfnisse, Erwartungen und Herausforderungen von Menschen mit Behinderungen sowie die Potenziale und Limitationen von Hilfsmitteln überhaupt zu identifizieren und so den Wettkampf weiterentwickeln zu können, zählt das CYBATHLON-Organisationskomitee auf die Unterstützung von externen Fachpersonen. Wer sind diese Personen?

Das sind einerseits unsere Head of Disciplines, also eine Fachperson pro Disziplin. Hauptsächlich sind das Doktorierende und Forschende der ETH Zürich und anderen Universitäten, die uns ihr Fachwissen in den verschiedenen Forschungsbereichen zur Verfügung stellen. Andererseits sprechen wir mit Organisationen, Stiftungen oder anderen Forschenden in diesen Gebieten. Beispielsweise haben wir das Sehassistenz-Rennen in enger Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband entwickelt.

Und nicht zuletzt tauschen wir uns natürlich mit Betroffenen, also Menschen mit Behinderungen, aus. Diese geben uns wertvolle Inputs, die eben nur eine Person mit Armprothese oder im Rollstuhl geben kann, und testen die Aufgaben auf Herz und Nieren. Der Pilot des ETH-Teams Neurolegs, Stefan Poth, oder unser Botschafter Michel Fornasier zum Beispiel sind immer bereit, neue Aufgaben aus ihrer jeweiligen Disziplin für uns zu testen und uns konstruktive Rückmeldung dazu zu geben, sodass wir den Wettkampf optimieren können.

 

CYBATHLON spricht bei den Nutzenden der Assistenztechnologien immer von Pilotinnen und Piloten. Warum?

Der Mensch steht immer im Zentrum. Die Assistenztechnologie – das Gerät – ersetzt die nutzende Person nie, sondern unterstützt sie oder ihn lediglich. Die Person steuert das Gerät und behält jederzeit die Kontrolle darüber – niemals umgekehrt. Weil wir die Technologie «nur» als Unterstützung oder Ergänzung der Person sehen und nicht als Teil des Menschen, nennen wir die Pilotinnen und Piloten auch bewusst nicht «Cyborgs».

 

Im neuen Rennen mit Assistenzrobotern scheint es jedoch hauptsächlich um den Roboter zu gehen. Welchen Beitrag leistet die Pilotin oder der Pilot in diesem Rennen?

Auch in diesem Rennen steht der Mensch im Zentrum, der Roboter dient zur Unterstützung im Alltag. Die Roboter agieren nicht autonom, sondern werden von den Nutzenden gesteuert. Der Beitrag der Pilotinnen und Piloten ist also auch in diesem Rennen zentral. Zudem gibt es bei diesem Rennen einige Aufgaben, die nur gelöst werden können, wenn eine direkte körperliche Interaktion zwischen der Pilotin oder dem Piloten und dem Roboter zustande kommt.

 

Mit dem neuen Sehassistenz-Rennen wird auch ein Fokus auf Menschen mit Sehbehinderungen gelegt. Inwiefern ist CYBATHLON in diesem Bereich barrierefrei?

CYBATHLON legt grossen Wert auf Barrierefreiheit, auch digitale. So wird beispielsweise die Webseite regelmässig von der unabhängigen Stiftung «Zugang für alle» überprüft und entsprechend den Kriterien für digitale Barrierefreiheit weiterentwickelt.

Die in mehreren Sprachen untertitelten Livestreams der CYBATHLON-Events erhalten eine deutsche und englische Audiodeskription, sodass auch blinde Menschen den Events folgen können. Und natürlich werden auch physische Event-Lokalitäten so barrierefrei wie möglich gestaltet. Dies gilt nicht nur für Sehbehinderungen, sondern auch für motorische Behinderungen. So gibt es beispielsweise in der Arena Schluefweg in Kloten, wo der CYBATHLON 2024 stattfinden wird, eine Rollstuhltribüne und ein extra für den Anlass nachgerüstetes Leitliniensystem, damit sich blinde Menschen orientieren können.

 

Mehr zum Wettkampf und den CYBATHLON-Disziplinen unter www.cybathlon.ethz.ch/de/cybathlon/wettkampf

Lukas Jäger, Head of Competition | © CYBATHLON, ETH Zurich (Alessandro Della Bella)

Lukas Jäger, Head of Competition

CYBATHLON, ETH Zurich (Alessandro Della Bella)


CYBATHLON fordert Entwicklerteams aus aller Welt heraus, alltagstaugliche Assistenztechnologien mit und für Menschen mit Behinderungen zu entwickeln. In einem einzigartigen Wettkampf zeigen die Teams, welchen Hindernissen Menschen mit Behinderungen alltäglich begegnen und wie Technik zu einer Welt ohne Barrieren beitragen kann.

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